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Anmerkungen des Regisseurs

Die Anfänge

Im Februar 2004 habe ich einen ehemaligen Anführer einer Todesschwadron gefilmt, der demonstriert hat, wie er und seine Mittäter in weniger als drei Monaten mehr als 10 500 angebliche Kommunisten auf einer Lichtung an einem Fluss in Nord Sumatra abgeschlachtet haben. Als er mit seinen Ausführungen fertig war, bat er meinen Tonmann, einige Bilder von uns am Flussufer zu schießen. Er grinste breit, Daumen hoch in einem Bild, das Victoryzeichen im nächsten.

Zwei Monate später tauchten andere Bilder in den Nachrichten auf, diesmal von US-Soldaten, lächelnd und mit Daumen hoch, während sie irakische Gefangene folterten und demütigten. (Errol Morris hat später gezeigt, wie viel komplexer diese Bilder sind als sie zunächst erscheinen.) Das Beunruhigendste an diesen Bildern ist nicht die Gewalt, die sie dokumentieren, sondern was sie darüber verraten, wie die Protagonisten in diesem Moment gesehen werden wollten. Und wie sie sich an sich selbst in diesem Moment zu erinnern glauben wollten. Zudem scheint das Darstellen, das Schauspielen und Posieren Teil der Prozedur der Erniedrigung zu sein.

Diese Bilder geben weniger über die physischen Situation des Missbrauchs Aufschluss, sie sind vielmehr forensische Beweise der Vorstellungswelten, die an der Unterdrückung beteiligt sind. Und sie waren mir sehr präsent, als ich ein Jahr später Anwar Congo und andere Führer von Pancasila, der indonesischen paramilitärischen Bewegung, traf.

Weit weg oder ganz nah?

Auf den ersten Blick mögen die Unterschiede der Situation, die ich in Indonesien gefilmt habe zu anderen Massenverfolgungen offensichtlich scheinen. Anders als in Ruanda, Südafrika oder Deutschland gibt es in Indonesien keine Kommissionen für Wahrheit und Versöhnung, keine Prozesse, keine Denkmäler für die Opfer. Stattdessen regieren die Täter und ihre Protegés das Land, seit sie die Gräueltaten begangen haben, und lassen sich von einer fügsamen (und oft eingeschüchterten) Öffentlichkeit als Nationalhelden feiern. Doch ist diese Situation wirklich so eine Ausnahme? Zu Hause (in den USA) waren die Befürworter von Folter, dem Verschwindenlassen von Verdächtigen und der unbegrenzten Internierung in den höchsten politischen Ämtern damit beschäftigt, ihr Image als heldenhafte Retter der westlichen Zivilisation zu pflegen. Dass solche fiktiven Entwürfe (trotz offensichtlicher Gegenbelege) geglaubt werden, legt ein Versagen unserer kollektiven Vorstellungswelt nahe, während es gleichzeitig offenlegt, wie machtvoll Fiktionen unsere Sicht auf die Welt bestimmen.

Dass Anwar und seine Freunde so voller Bewunderung für amerikanische Filme, amerikanische Musik und amerikanische Kleidung waren machte es noch schwerer, die Parallelen zu ignorieren, und so wurde mir, was ich filmte, zu einer albtraumhaften Allegorie.

Überlebende filmen

Als ich 2005 begann, THE ACT OF KILLING zu entwickeln, hatte ich bereits drei Jahre lang Überlebende der Massaker von 1965/66 gefilmt. Ich hatte ein Jahr lang in einem Dorf von Überlebenden in einem bäuerlichen Gebiet außerhalb von Medan gelebt und war in sehr engem Kontakt mit mehreren Familien dort. Während dieser Zeit arbeiteten Christine Cynn und ich mit einer in Gründung befindlichen Gewerkschaft von Plantagenarbeitern (daraus entstand unser Film THE GLOBALIZATION TAPES) und wir begannen die Arbeit an einem neuen Projekt, in dem eine Familie Überlebender (mit unglaublicher Würde und Geduld) die Mörder ihres Sohnes konfrontiert. Unsere Bemühungen, die Erfahrungen der Überlebenden zu dokumentieren, die nie zuvor öffentlich gemacht wurden, fanden im steten Schatten ihrer Unterdrücker und der Mörder ihrer Verwandten statt – Männerwie Anwar Congo, sich damit brüsteten, was sie getan hatten.

Ironischerweise war es am gefährlichsten, Überlebende zu filmen. Die Widerstände gegen unser Projekt häuften sich. Als wir zum Beispiel versuchten, eine Szene zu filmen, in der ehemalige politische Häftlinge eine Javanesische Ballade probten, in der sie von ihre Zeit in den Konzentrationslagern berichten (in der sie als Zwangsarbeiter auf einer Plantage arbeiteten, die in englischem Besitz war, und in der jede Nacht einige ihrer Freunde den Todesschwadronen übergeben wurden, um getötet zu werden), wurden wir von der Polizei unterbrochen, um verhaftet zu werden.

Später unterbrach die Geschäftsführung der London-Sumatra Plantage unsere Dreharbeiten mit der „Ehre“ einer „Einladung“ in die Zentrale der Plantage. Oder der Bürgermeister des Dorfes kam mit Militäreskorte um uns mitzuteilen, dass wir keine Dreherlaubnis hätten. Oder eine sogenannte NGO zur „Rehabilitierung der Opfer der Massaker von 1965/66“ tauchte auf und erklärte, dies sei „ihr Zuständigkeitsbereich“ und dass die Dorfbewohner sie bezahlt hätten um sie zu schützen. (Als wir später die Zentrale der Organisation besuchten, entdeckten wir, dass der Leiter der NGO niemand anders als einer der führenden Mörder der Gegend (und ein Freund von Anwar Congo) war und dass das Personal der NGO aus Mitgliedern des Militärgeheimdienstes bestand.)

Es wurde nicht nur für uns gefährlich, die Überlebenden zu filmen, wir waren auch um ihre eigene Sicherheit besorgt. Außerdem konnten die Überlebenden unsere Fragen, wie die Morde genau begangen wurden, nicht beantworten.

Die Mörder brüsten sich

Die Mörder selbst aber waren mehr als bereit zu helfen, und wenn wir sie filmten, wie sie sich mit ihren Verbrechen gegen die Menschlichkeit brüsten, gab es keinerlei Widerstand. Alle Türen standen uns offen. Die örtliche Polizei bot an, uns zu den Tatorten von Massenmorden zu begleiten, wo sie die Mörder freundlich grüßten oder vertraulich mit ihnen scherzten, je nachdem wie gut sie sich kannten und wie hoch der jeweilige Mörder heute in der Hierarchie stand. Armeeoffiziere hielten sogar ihre Soldaten dazu an, neugierige Zuschauer fernzuhalten um unsere Tonaufnahmen nicht zu stören.

Diese bizarre Situation war mein zweiter Ausgangspunkt für THE ACT OF KILLING. Die Frage, die ich im Kopf hatte war: was bedeutet es, in und unter einem Regime zu leben, dessen Macht auf der Darstellung von Massenmord und dem Prahlen mit den Gräueltaten begündet ist? Ein Regime, das Überlebende so sehr einschüchtert, dass sie nicht offen darüber sprechen können? Wieder schien hier ein grundlegendes Versagen der kollektiven Vorstellungswelt vorzuliegen.

Chancen nutzen

Darin sah ich eine Chance: die Täter in Nordsumatra gaben uns die Mittel an die Hand, ihre Erinnerungen an den Genozid genauso darzustellen, wie sie es wünschten. Vielleicht wären sie dann auch bereit, noch weiter zu gehen und diese Erinnerungen in einen „schönen Familienfilm“ (wie Anwar es ausdrückte) zu verwandeln, dessen Kaleidoskop von Genres ihre zahlreichen und widersprüchlichen Gefühle über ihre „ruhmreiche Vergangenheit“ ausdrücken könnte. Ich erwartete mir, dass das Ergebnis dieses Prozesses offenlegen würde, sogar für die Indonesier selbst, wie tief die Kultur der Straffreiheit und der Mangel an Aufklärung in ihrem Land immer noch verwurzelt sei. Darüber hinaus hatten Anwar und seine Freunde dabei geholfen, ein Regime aufzubauen, das die Opfer dazu zwang, sie als Helden zu behandeln. Mir wurde klar, dass der Prozess des Filmens viele Fragen über eine solches Regime beantworten würde – Fragen, die zweitrangig scheinen mögen, die aber in der Realität untrennbar mit dem Regime verbunden sind. Zum Beispiel: Welche Vorstellung haben Anwar und seine Freunde davon, wie andere sie wirklich sehen? Wie möchten sie gesehen werden? Wie sehen sie sich selbst, und wie ihre Opfer? Was sagt ihre Vorstellung, wie andere sie sehen, über ihre Vorstellung von der Welt aus, in der sie leben, und von der Kultur, die sie mit aufgebaut haben?

Die Methode des Filmemachens, die wir in THE ACT OF KILLING nutzen, wurde zur Beantwortung dieser Fragen entwickelt. Am besten kann man sie als eine investigative Technik sehen, die uns hilft, nicht nur zu verstehen,WAS wir sehen, sondern auch WIE wir sehen und wie wir uns die Welt zurechtlegen. (Den entstandenen Film kann man vielleicht am besten als eine Dokumentation des Imaginären beschreiben). Diese Fragen sind von entscheidender Bedeutung um die Vorstellungswelten zu verstehen, die es Menschen erlauben, andere Menschen zu verfolgen, und wie eine Gesellschaft möglich ist, die auf systematischer und andauernder Gewalt aufgebaut ist.

Anwars Reaktionen

Wenn es mein ursprüngliches Ziel war, Antworten auf diese Fragen zu finden, und Anwars bewusste Absicht, seine Taten in der Vergangenheit zu glorifizieren, muss er, zumindest teilweise, vom enstandenen Film enttäuscht worden sein. Ein entscheidender Teil der Entstehung des Films war aber, Anwar und seinen Freunden immer wieder das bereits gefilmte Material zu zeigen. Es war unvermeidlich, dass wir ihnen die schmerzhaftesten Szenen zeigten. Sie wussten, was der Film beinhalten würde; tatsächlich hatten sie während der Dreharbeiten ausführliche Diskussionen über das Filmemachen und diskutierten die möglichen Konsequenzen sehr offen. Anwars Interesse nahm mehr und mehr zu, als er diese Szenen sah. Ich verstand langsam, dass er während der Dreharbeiten eine parallele, persönlichere Reise angetreten hatte, in deren Verlauf er versuchte, die Bedeutung seiner Taten zu bewältigen. So gesehen ist Anwar der mutigste und ehrlichste Charakter in THE ACT OF KILLING. Er mag das Ergebnis „mögen“ oder nicht, aber ich habe versucht, seine Offenheit und seinen Mut anzuerkennen, indem ich ihn so ehrlich und mit so viel Einfühlungsvermögen wie möglich zeige, während ich immer noch den unaussprechlichen Taten, die er begangen hat, gerecht zu werden versuche.

Es gibt keine einfache Lösung in THE ACT OF KILLING. Der Mord an über einer Million Menschen ist unvermeidlicherweise mit Komplexität und Widersprüchen behaftet. Kurz: es hinterlässt ein schreckliches Durcheinander. Umso mehr, als die Mörder immer noch an der Macht sind und es keinen Versuch gab, Gerechtigkeit zu finden, und da die Geschichte immer noch dazu benutzt wird, die Überlebenden einzuschüchtern. Der Versuch, eine solche Situation zu verstehen, auf sie einzuwirken, sie zu dokumentieren, kann nur ebenfalls in diesem Durcheinander befangen sein.

Der Kampf geht weiter

Ich habe eine Methode des Filmemachens entwickelt, mit der ich versuche zu verstehen, warum Gewalt, die so extrem ist dass wir uns wünschen, sie sei unvorstellbar, im Gegenteil Teil der Vorstellungswelt einer Gesellschaft ist und als Routine vorkommt. Ich wollte das moralische Vakuum verstehen, in dem die Täter eines Genozids im öffentlichen Fernsehen gefeiert und bejubelt werden können. Manch ein Zuschauer mag sich ein anderes Ende des Films wünschen: den Erfolg des Kampfes für Gerechtigkeit, der das Machtgefüge in Frage stellt und zu Menschenrechtstribunalen, offiziellen Entschuldigungen und Entschädigungen führt. Ein Film allein kann diese Veränderungen nicht bewirken, aber es war natürlich dieser Wunsch, der uns zu THE ACT OF KILLING inspiriert hat. Wir wollten nicht nur Licht in eines der dunkelsten Kapitel der örtlichen und allgemein menschlichen Geschichte bringen, sondern auch den wahren Preis von Blindheit, Berechnung und einer Unfähigkeit, Gier und Machthunger aufzeigen – in einer Welt, in der räumliche Entfernungen immer mehr an Bedeutung verlieren. Dieser Film handelt letzen Endes nicht von Indonesien. Er handelt von uns allen.